Qualzucht I
(dieser Text wurde in geänderter Form in der Kleintiernews 10/2022 veröffentlicht)
Einleitung
Im Jahr 2020 wurden in der „Kleintiernews“ zwei Artikel mit dem Thema „Qualzucht“ bei Kaninchen
veröffentlicht. Hintergrund war seinerzeit ein Merkblatt der „Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz“
(TVT), in dem u. a. Behauptungen zu sogenannten „Minizwergen“ in Verbindung mit Zahnfehlern
aufgestellt wurden. Im ersten Artikel (Rühle, 2020a) wurde aufgezeigt, dass die genannten
Literaturquellen nicht geeignet waren, ein großes Gesundheitsproblem von Heimkaninchen auf eine
Kopfform zurückzuführen. Vielmehr sei es wichtig, Haltungs- und Fütterungsbedingungen an die
Bedürfnisse der Tiere anzupassen. Im zweiten Artikel (Rühle, 2020b) wurde kurz auf Behauptungen in
Bezug „Widderkaninchen“ mit einem ähnlichen Ergebnis eingegangen. Außerdem wurde erläutert,
warum viele „Studien“ bzw. wissenschaftliche Arbeiten zu dem Thema hauptsächlich aus Gründen der
Auswahl der Tiere und deren Anzahl nicht repräsentativ sind und somit kein Rückschluss auf eine
Grundgesamtheit von Kaninchen geführt werden kann.
Die gegenwärtige „Qualzucht“-Kampagne beruht grundsätzlich auf dem gleichen Prinzip wie das der
TVT – es werden Behauptungen aufgestellt, für die Quellen als Nachweise angegeben werden. Im Fall
der TVT waren diese nicht hilfreich. Dieser Beitrag liefert beispielhaft Einblicke in die „Evidenzen“ des
Merkblattes für Behauptungen des „Qualzucht-Evidenz-Netzwerk“ (QUEN), auch wenn dort nur 5
Literaturverweise dafür angegeben wurden.
Die Kampagne
In einem Tagungsband der „Schweizer Tierschutz STS“ vom 18.10.2019 finden sich verschiedene
Beiträge, u. a. von D. Plange und Furler-Mihali, 2019. Letztere trug einen Artikel mit dem Titel
„Qualzucht bei Kaninchen & Co.“ bei. Da sich einige der dort getroffenen Behauptungen auch in dem
QUEN-Merkblatt wiederfinden, sei hier kurz darauf eingegangen.
So wurde z. B. von Furler-Mihali, 2019 erklärt: „Die veränderte gedrungene Schädelform verursacht bei
Zwergkaninchen eine Kieferverkürzung (Brachygnathie), welche die Nahrungsaufnahme erschwert und
einschränkt.“. Diese Aussage ist falsch - vielmehr verursacht die Brachygnathie als Folge einer
Erbkrankheit eine Verkürzung des Schädels, wie von Fox & Crary, 1971 am Beispiel von Kaninchen der
Rasse „Weiße Neuseeländer“ nachgewiesen wurde. Bei dieser Rasse handelt es sich nicht um
Zwergkaninchen mit einer „gedrungenen“ Schädelform. Dieser oft wiederholte Irrtum wurde in Rühle,
2020b klargestellt. Vermutungen, dass eine bestimmte Kopfform für verschiedene Erkrankungen des
Gebisses verantwortlich sei, wurden und werden immer wieder vorgebracht, konnten bisher aber nicht
belegt werden. Dass jede Rasse von Zahn- und Kieferveränderungen betroffen sein kann, wurde
beispielsweise in der Dissertation von Korn, 2016 herausgearbeitet.
Eine behauptete, gestörte „innerartliche Kommunikation“ ist nicht gegeben, weil die Ohren dafür keine
Rolle spielen. In der angegebenen, Quelle (Schneider, 2017) werden zwar einige Verhaltensweisen
wissenschaftlich begründet, aber genau diese Behauptung nicht, obwohl dort die Dissertation von Kraft,
1976 über vergleichende Verhaltensweisen von Haus- und Wildkaninchen genutzt wurde. In dieser
wurde u. a. folgendes festgestellt: “Ritualisierte Verhaltensweisen, die für das soziale Zusammenleben
eine Rolle spielen, beschränken sich bei Kaninchen nicht auf einzelne Körperteile wie Kopf oder Ohren,
sondern erfassen den ganzen Körper.“ (Kraft, 1976, S. 92).
Die zitierte Hörschwellenbestimmung von Claaßen, 2004 bezieht sich auf eine Untersuchung mit
fragwürdiger Auswahl der Tiere und Unterlassung der Angabe des Alters der jeweils untersuchten Tiere
in den vergleichenden Untersuchungen, obwohl es bekannt war. Zudem musste auf Grund der geringen
Tierzahl und stark streuender Werte (Standardabweichungen größer als die Mittelwerte) eine eher
unübliche, statistische Auswertung in Form von Quartilen vorgenommen werden.
Besonders bemerkenswert war die folgende Erklärung: „In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2009
(Mitchell & Tully 2009) wird beschrieben, dass Kaninchenrassen mit Hängeohren erhöhte Tendenzen
zur Entwicklung von Außenohrinfektionen (Bakterien)/ -entzündungen (Otitis externa) haben, da der
Ohrkanal an der Biegestellung verengt ist. Diese Entzündungen/Infektionen sind mit Schmerzen und
Irritationen verbunden und müssen therapiert werden um das Wohlbefinden des Tieres zu verbessern.“
Bemerkenswert ist sie deshalb, weil das von Mitchell & Tully, 2009 allgemein und ohne Beleg in nur
einem Satz folgendermaßen festgestellt wurde: „Lop breeds are predisposed to developing bacterial
otitis because of the flexion of the cartilage at the base of their ears.“. Bakterien als Grund für
„Außenohrerinfektionen“ vorrangig bei Widderkaninchen erscheinen fraglich, weil in zwei verschiedenen
Publikationen keine Unterschiede des Mikrobioms der Ohren von Stehohr- und Widderkaninchen
gefunden werden konnte (Quinton et al., 2014; Reuschel, 2018). Eine neuere Untersuchung von Diaz et
al, 2021 konnte auch keinen Unterschied für Hefepilzen in Ohren von Stehohr- und Widderkaninchen
nachweisen. Das heißt, die Erklärung eines Luftabschlusses im inneren Ohr von Widderkaninchen
scheint fragwürdig und insofern widerlegt, da auch bei gesunden Stehohr- und Widderkaninchen kein
Unterschied im Mikrobiom der Ohren festgestellt werden konnte.
Eine zitierte Arbeit von Johnson & Burn, 2019 wurde zwar korrekt als „Populationsstudie“ bezeichnet,
aber ohne zu erwähnen, dass diese auf 30, subjektiv ausgewählten Tieren eines Tierheimes beruhten,
was eine Verallgemeinerung nicht zulässt. Schließlich wurde ein „Problem“ aus dem
„Qualzuchtgutachten“ von Herzog et al., 2005 falsch interpretiert – die „Thermoregulation“ über die
Ohren. Dieses wurde dort im Kapitel 2.1.3.2 „Polygen vererbte Merkmale“, 2.1.3.2.1 „Langohrigkeit“,
insofern missverständlich dargestellt, dass es einen Nachteil für Tiere mit großen Ohren darstellen
könnte. Auf Seite 11 des Gutachtens wurde aber korrekt erklärt: „Da die Ohren insbesondere beim
Kaninchen in hohem Maße zur Wärmeregulation notwendig sind, besteht bei sehr kurzen Ohren die
Gefahr unzureichender Wärmeregulation mit allen nachteiligen Folgen für die Tiere, insbesondere
während des Sommers bei hoher Temperatur im Außenkäfig.“. In der dafür zitierten Quelle merkte
Nichelmann, 1972 an: „Kaninchen haben große Ohren, die vorwiegend aus Haut und Knorpel
bestehen, so daß ihre Oberfläche groß, ihr Volumen aber klein ist. Die Wärmeabgabe ist somit auch bei
hohen Umgebungstemperaturen leicht möglich.“.
Letztlich forderte das „Qualzuchtgutachten“ von Herzog et al., 2005 kein Verbot von Widdern „deren
Ohren bei Kauerstellung den Boden berühren“, wie von Furler-Mihali, 2019 behauptet, sondern empfahl
die Festlegung einer maximalen Ohrlänge für Englische Widder, was im Rassestandard, 2018 des
„Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter e. V.“ (ZDRK) auch umgesetzt wurde. Soweit kurz
zu einem Beitrag, der im Vorfeld der Qualzucht-Kampagne veröffentlicht wurde.
Am 29.10.2019 informierte die Präsidentin der Landestierärztekammer Berlin, Heidemarie Ratsch, in
einem Gastbeitrag für die Organisation „Wir-sind-Tierarzt.de“ über eine “zweite Qualzucht-Kampagne
der Tierärztekammer Berlin: Plakate in der U-Bahn und an Bussen sowie begleitende Postkarten
machen auf problembehaftete Züchtungen aufmerksam. Wir wollen erneut einen sichtbaren Anstoß in
Richtung gesunde Tiere geben.“. Neben Hunden und Katzen heißt es zu Kaninchen: „Kuschlig , aber
leidend - Qualzucht trifft auch Kaninchen“. Begründet wurde die „Qualzucht“ mit den folgenden
Argumenten:
•
„Aufgrund der kurzen Kieferknochen haben sie Zahnprobleme, den es ist zu wenig Platz für alle
Zähne.
•
Auch die Kaninchen haben tränende und entzündete Augen durch zu enge Tränenkanäle.
•
Sie leiden oft an schmerzhafte Ohrenentzündungen und Schwerhörigkeit durch Hängeohren.
•
Auch besteht Verletzungsgefahr und eingeschränkte Beweglichkeit durch bodenlange
Hängeohren.
•
Fehlende Tasthaare an Maul und Augen erschweren den Tieren massiv die Orientierung im
Raum – hierdurch erhöht sich die Verletzungsgefahr der Kaninchen
•
Außerdem entwickeln sich dauerhafte Hautentzündungen an den Hinterpfoten, weil dort
zuchtbedingt ein ausreichend polsterndes Fell fehlt, so dass die Haut direkt über den Knochen
liegt. In diesen Bereichen gibt es aber eine hohe Druckbelastung.“ (Ratsch, 2019; Fehler wurden
übernommen).
Auf der Webseite der Berliner „Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz
Abteilung Verbraucherschutz“ werden entsprechende Informationen als Tatsache dargestellt: „Bei
vermeintlich niedlich aussehenden Hunde, Katzen- oder Kaninchenrassen mit besonderem Aussehen
wie runde Köpfe, hervorstehende große Augen, besondere Fellfärbungen, kurze Beine und andere
liegen genetische Defekte vor, die Leiden und Schmerzen bei den betroffenen Tieren verursachen und
den Tatbestand des § 11 b Tierschutzgesetz erfüllen.“ (SUMVK, 2022).
Am 1. Oktober 2021 informierte D. Plange, die bis zum Eintritt in die Pension 2020 als öffentlich
bestellte und vereidigte landwirtschaftliche Sachverständige für Tierschutz sowie
Landestierschutzbeauftragte des Landes Berlin tätig war, über die Gründung des „Qualzucht-Evidenz
Netzwerk e. V.“ (QUEN). Dabei handelt es sich um ein „Datenbankprojekt“, welches durch die
Tierärztekammer Berlin unterstützt wird (Plange, 2021).
Die QUEN-Datenbank soll einen vereinfachten Zugang zu einer Vielzahl von Ressourcen und
Informationen zuchtbedingter Prädispositionen und Erkrankungen bei sehr vielen Tierarten und Rassen
schaffen. Dafür „sollen nach Rassen, aber auch nach einzelnen bekannten sichtbaren oder nur durch
weiterführende Untersuchungen erkennbaren Defekten strukturierte Informationen wie Literatur,
Beschreibungen, Gutachten (auch aus juristischer, ethischer und genetischer Sicht), Bilder, Expert-
Ansprechpartner, Gerichtsurteile usw. zur Verfügung gestellt werden.“. Nach der Gründung sicherte
man sich die Unterstützung durch die Bundestierärztekammer (BTK, 2022), des Ministeriums für
Wirtschaft, Tourismus, Landwirtschaft und Forsten des Landes Sachsen-Anhalt (MWTLF, 2022) sowie
des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL, 2022).
Die ausdrückliche Begrüßung und Befürwortung des BMEL irritiert insofern, weil in einem, vom
BMEL/BLE geförderten Erhebungsprojekt, Bestandserhebungen gefährdeter Nutztierrassen
durchgeführt werden, die vom ZDRK unterstützt und in einer „Roten Liste“ gelistet werden (BLE, 2021).
Die, in der Roten Liste, als gefährdet eingestuften Nutztierrassezuchten können eine Förderung
erhalten. Unter „4. Gefährdung einheimischer Nutztierrassen - Kaninchen“ finden sich z. B. in der
Kategorie II“ „stark gefährdet“ Kaninchen der Rasse „Angora“ und „Englische Widder (gemäß
deutschem Zuchtstandard)“, in Kategorie III „gefährdet“ die Rasse „Meißner Widder“ und in Kategorie
IV „unter Beobachtung, zur Zeit nicht gefährdet“ z. B. die Rassen „Deutsche Riesenschecken“,
„Deutsche Widder“, „Englische Schecken“, „Hermelin“, „Rexkaninchen“ sowie „Rheinische Schecken“
(BLE, 2021, Tabelle 8). Eventuell bedarf es hier besserer Absprachen, damit nicht das Ressort eines
Ministeriums das beabsichtigte Verbot von Kaninchenrassen in einer Kampagne ausdrücklich begrüßt,
während ein anderes Ressort die Zucht ebendieser Rassen fördert (siehe MLR, 2020; Konold et al.,
2020 und BLE, 2021).
Geklärt werden müsste zudem, ob das Merkblatt für Heimtiere oder Nutztiere gilt - oder ob sich das
QUEN die Zuständigkeit für alle Bereiche der Zucht anmaßt, wie es den Eindruck erweckt.
Ebenfalls auf der Seite der Tierärztekammer Berlin informiert ein Plakat mit dem Bild eines
Löwenkopfkaninchens mit Stehohren darüber, dass das Verbot der Qualzucht bisher nur unzureichend
umgesetzt werde. Unter dem Punkt „Was kann ich tun?“ heißt es z. B. dass man Tiere bei einem
verantwortungsvollen Züchter auswählen, Mischlingstiere bevorzugen oder Tiere im Tierheim kaufen
sollte (TÄK Berlin, 2022, Hervorgebung A. R.).
In einem Tagungsband der DVG-Fachgruppe vom November 2021 beklagt M. Fehr: „Auch wenn der
Zugang zu Züchtern und Zuchtvereinen häufig erschwert ist bzw. von diesen abgelehnt wird, müssen
diese verstärkt über notwendige Zuchtmaßnahmen zur Verbesserung die Tiergesundheit auf
genetischer Basis erzeugt werden.“. Diese Behauptung steht im deutlichen Widerspruch zur Aussage
von Dr. H. Ratsch in einer Antwort an den Präsidenten des ZDRK, Bernd Graf vom 31.10.2021: „Warum
haben wir lhren Verein nicht im Vorfeld kontaktiert? Wir haben auch den VDH Verband für das
Deutsche Hundewesen e.V.) nicht in die Gestaltung unserer Kampagne einbezogen. Wir haben unsere
lnformationen von Kolleginnen und Kollegen aus der Praxis bezogen und aus dem auch von lhnen
erwähnten Gutachten des BMEL.“ (Ratsch, 2021, Hervorhebung A. R.).
Da das Gutachten von Herzog et al., 2005 mittlerweile 17 Jahre alt ist und der ZDRK im Vorfeld nicht
einbezogen wurde, ist den Beteiligten der Qualzucht-Kampagne entsprechend entgangen, dass es in
der organisierten Kaninchenzucht im ZDRK Änderungen gegeben hat. Das bedeutet konkret, dass
bestimmte Behauptungen der Kampagne nichtzutreffend sind - die organisierte Zucht im ZDRK
betreffend. Für den großen Bereich der unkontrollierten, privaten Zucht und Vermehrung ist eine
Einschätzung nicht möglich. Daraus ergibt sich auch die Realitätsferne der gesamten Kampagne:
sicher kann etwas auf Grund von Behauptungen einfach verboten werden, wenn es kontrollierbar ist
und bestimmte Vorgaben erfüllt. Das ändert aber nichts an einer gewünschten Gesamtsituation der
Qual-, Leiden- und Schmerzfreiheit für Tiere in einem Bereich, der nicht zu kontrollieren ist.
Das QUEN hätte auch die Arbeitsgemeinschaft der Widderzüchter im ZDRK nutzen können, um
fachlich fundierte Informationen über Widderkaninchen in der organisierten Zucht zu erhalten: "Die
Arbeitsgemeinschaft der Widderzüchter", ein Zusammenschluss von "Widderzüchter aller Widderrassen
und Farbenschläge, sind Spezialzüchter und ein verschmolzener Teil unserer großen
Züchtergemeinschaft im Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter e.V. (ZDRK). Wir wollen
durch eine vernünftige züchterische Basisarbeit Meinungen sammeln, bündeln und tierschutzgerechte
Zuchtziele erarbeiten." (Widder AG, 2022).
Am 16.07.2022 wurde auf dem Web-Auftritt „vet.thieme.de“ der „Georg Thieme Verlag KG“ ein Artikel
mit Titel: „Widderkaninchen - lange, süße Schlappohren!?“ veröffentlicht. Zum Thema „Qualzuchten“
geht es „um Widderkaninchen mit ihren langen süßen Schlappohren. Welche Symptome typisch für die
Merkmale der Zucht sind und welche Folgen diese für das Leben des Tieres von Geburt an haben,
werden im Folgenden vorgestellt.“ (vet.thieme.de, 2022). Als Merkmale werden die folgenden
aufgeführt:
•
“Bewegungs-/ Sichtfeldeinschränkungen
•
Keine Kommunikation mit Artgenossen, da Ohren nicht beweglich
•
Erhöhtes Verletzungsrisiko durch Tritte/ Hängenbleiben
•
Anatomische Einschränkung des Hörvermögens bis zur Taubheit durch häufige
Ohrenentzündungen
•
Prädisposition zur Abszessbildung an/in den Ohren.“ (vet.thieme.de, 2022)
Für weitere Tipps wird von dem Wissenschaftsverlag auf zwei private Instagram-Profile verlinkt. Eines
der Profile verfügt über die gleichnamige, private Webseite „Kaninchenwiese.de“, deren Betreiberin
Schillinger, 2022 beim QUEN als Kontakt bzw. “Expertin” für Kaninchen geführt wird.
Das „Merkblatt Kaninchen Rasse Widder“ des QUEN
Prinzipiell ist anzumerken, dass das Merkblatt „QUEN-Kn-MB-sD-2022_1“ des QUEN vom 11.05.2022
mit dem Titel „Merkblatt Kaninchen Rasse Widder“ im Vergleich zum früheren Gutachten zur Auslegung
von § 11b des Tierschutzgesetzes vom 02.06.1999 (Herzog et al., 2005) formal und vor allem fachlich
deutlich schlechter ist. In dem früheren Gutachten wurden konkrete, mögliche „Defekte“ einer Zucht
übersichtlich und mit Quellen nachvollziehbar gelistet. Unterschieden wurde zwischen vermuteten
Häufigkeiten auf Grund einer Zuchtform und Einzeldefekten. Daraus wurden Empfehlungen abgeleitet.
Der ZDRK hat daraus wiederum Vorgaben im Rassestandard erarbeitet, die tierschutzrechtlichen
Vorgaben entsprechen.
Das QUEN-Merkblatt enthält dagegen eine Sammlung von Theorien, Hypothesen bzw. Vermutungen
über höhere Anfälligkeiten für Erkrankungen von „Widderkaninchen“ im Vergleich zu anderen
Kaninchenrassen, die nicht belegt werden. Unter Punkt 14, Literaturverzeichnis finden sich 5 (als Wort:
fünf) Verweise ohne konkrete Zuordnung zu einer Behauptung im Merkblatt.
In einer Art Vorwort heißt es auf der Webseite des QUEN: „Wir weisen darauf hin, dass es sich bei der
Aufzählung von Krankheiten, Defekten und Funktionseinschränkungen um Erscheinungen handelt, die
bei Tieren dieser Art und Rasse (unabhängig davon, in welchem Verein oder Verband oder ob privat
gezüchtet) auftreten können bzw. vermehrt beobachtet wurden. Weiter beschreiben die Merkblätter
mögliche oder notwendige Anordnungen für den Fall, dass entsprechende zuchtbedingte
Veränderungen durch eine Tierärztin oder einen Tierarzt festgestellt wurden.“. (https://qualzucht-
datenbank.eu/kaninchen/ Menüpunkt „Kaninchen“)
Zunächst muss festgestellt werden, dass eine Rasse „Widderkaninchen“ nicht existiert. Beschrieben
werden mit dem Begriff vielmehr verschiedene Kaninchenrassen, denen in Bezug auf den Phänotyp
eines gemeinsam ist: im Vergleich zur Wildform und anderen Hauskaninchenrassen hängen ihre Ohren
und stehen nicht aufrecht. Deshalb werden in verschiedenen Publikationen Hauskaninchen mit
hängenden Ohren als „Widder“ bezeichnet und in Abgrenzung dazu andere Hauskaninchen als
„Stehohr“-Kaninchen.
Das Merkblatt fordert kein Zuchtverbot für „Widderkaninchen“, wie es der Titel vermuten lässt, sondern
„für alle Tiere deren Ohren besonders schwer und/oder bei gesenktem Kopf den Boden erreichen“. Das
ist keine Definition einer Kaninchenrasse, sondern eine Beschreibung von Merkmalen eines Phänotyps
von Kaninchen, die in der Praxis nicht messbar sind und sich nicht vergleichen lassen können – schlicht
und ergreifend deshalb, weil es dafür keine Daten gibt. Sie lassen sich höchstens subjektiv beurteilen.
Deshalb möchte das QUEN allein auf Grund des Phänotyps eines Tieres neben dem Zucht- auch ein
Ausstellungsverbot durchsetzen, weil: „Bei dem Tier besteht aufgrund der sichtbaren Veränderung der
Verdacht einer Qualzucht gem. §11b TierSchG, deshalb wird die Vorstellung des Tieres zur Ausstellung
und Bewertung aller Art untersagt.“ (Hervorhebung A. R.). An dieser Stelle sei vermerkt, das ein
„Merkblatt“ nicht rechtsverbindliche ist. Das gilt auch für das „Merkblatt Kaninchen Rasse Widder“ des
QUEN.
Ein Veterinäramt müsste eigentlich den Verdacht prüfen, ob die Ohren der Kaninchen mit hängenden
Ohren jeweils „besonders schwer“ sind, um sie von einer Schau auszuschließen. Weiterhin muss das
Veterinäramt den Verdacht prüfen, ob die Ohren „bei einem gesenkten Kopf“ den Boden erreichen. Den
Verdacht kann man für ein jeweiliges Tier nur vor Ort prüfen, weil es auch innerhalb von Rassen
Unterschiede geben kann. Zudem existieren keine Daten für die „Schwere von Ohren“ oder für die
Länge, ab der die Ohren bei einer Position „mit gesenktem Kopf“ den Boden erreichen. Dazu folgendes
Beispiel eines Englischen Widderkaninchens:
Bild: Englisches Widderkaninchen (Weibchen), mantelgescheckt, schwarz-weiß, Bundessieger 2019.
© Marina Walks. Bei diesem Tier erreichen die Ohren auch dann nicht den Boden, wenn es den Kopf
senkt (das Kinn zur Brust senkt). Die Schwere der Ohren lässt sich nicht ohne weiteres bestimmen und
selbst wenn, läge kein Maßstab für einen Vergleich vor.
© Marina Walks
Problematisch ist die Erklärung, dass es sich im Merkblatt um „Krankheiten, Defekten und
Funktionseinschränkungen um Erscheinungen handelt, die bei Tieren dieser Art und Rasse
(unabhängig davon, in welchem Verein oder Verband oder ob privat gezüchtet) auftreten können bzw.
vermehrt beobachtet wurden.“. (Hervorhebung A. R.)
Vom QUEN wird die organisierte Zucht sowie die Herdbuchzucht des ZDRK von
landwirtschaftlichen Nutztieren mit jeder privaten Zucht oder Vermehrung von Kaninchen
gleichgestellt.
Das erinnert an eine fatale Empfehlung der TVT, 2019 in Bezug auf Grundfutterkomponenten für
Kaninchen, die nach dem Verständnis vereinigter Tierärzte scheinbar vergleichbar sind: „Grundfutter für
Kaninchen sind frische oder getrocknete Pflanzenteile (frischer Wiesenschnitt bzw. hochwertiges
Heu).“. Frischer Wiesenschnitt und hochwertiges Heu haben auf Grund der Konsistenz (z. B. Zähigkeit)
und Nährstoffgehalte nichts miteinander zu tun – sie sind qualitativ nicht vergleichbar.
Der Vorteil einer kontrollierten Zucht besteht darin, unerwünschte Defekte zu erkennen und zu
verhindern, dass diese weitervererbt werden. Die allgemeine Formulierung im Merkblatt entstammt
wohl dem Fakt, dass bis heute ungeklärt ist, um was für Tiere es sich in den vorrangig klinischen
Studien zu verschiedenen Themen handelt und pauschal alle Widderkaninchen zur Qualzucht erklärt
werden sollen. Nur in den seltensten Fällen überhaupt dürften die genaue Rasse und die Herkunft bzw.
Abstammung der Tiere bekannt sein, wie den allgemeinen Formulierungen in den Studien zu
entnehmen ist. Natürlich gelangen auch Kaninchen aus der organisierten Zucht in Privathände, deren
Zahl dürfte aber sehr gering sein und eben ungeklärt, ob solche Tiere jemals bei einem Tierarzt
vorgestellt wurden.
Bild 2: Kaninchenpopulationen in Deutschland, aus denen überwiegend Tiere in Tierarztpraxen
vorgestellt werden
Da Ohrerkrankungen in Form von Otitiden eine wichtige Rolle in dem Merkblatt spielen, wäre es wichtig
zu wissen, in welchem Umfang diese auftreten. Eine allgemeine Analyse des Fallaufkommens in
deutschen Tierarztpraxen wurde in der Dissertation von Klinger, 2016 vorgenommen. Dafür wurden
„6.100 tiermedizinische Fallvorstellungen an 5.030 Patienten in fünf Tierarztpraxen in Deutschland
aufgezeichnet und hinsichtlich der spezifischen Fachbereiche, gestellten Diagnosen, jahreszeitlichen
und lokalen Unterschieden, sowie der durchgeführten Diagnostik und Therapien analysiert. Die
teilnehmenden Praxen waren im Südosten, Südwesten, Nordwesten und Nordosten Deutschlands
gelegen.“ (S. 1). Die Verteilung der Spezies in der Analyse zeigt das folgende Diagramm.
Diagramm 1: Verteilung als Anzahl der Spezies in der Studienpopulation von Klinger, 2016
Die häufigsten Vorstellungsgründe für Kaninchen waren „Gesundheitsvorsorge“, Otitiden wurden ohne
Unterscheidung nach Tierarten/Spezies in 13% der Gesamtpopulation verzeichnet. In der Arbeit wurden
einige Fakten in Bezug auf das Studiendesign erwähnt, welche in künftigen, ähnlichen Untersuchungen
mitberücksichtigt werden sollten:
•
Unterschiedliche großes Patientenaufkommen in den Praxen
•
Unterschiedliche Verteilung der Tierspezies in den Praxen
•
Unterschiedliche Gewichtung der Erkrankungen in den Praxen
•
Jahreszeit der Vorstellung der Patienten.
Die Häufigkeit von verschiedenen Erkrankungen des Hauskaninchens wurde in verschiedenen Studien
analysiert, eine Übersicht dazu wurde z. B. von Langenecker et al., 2009 veröffentlicht. Aus dieser
wurde deutlich, dass Erkrankungen der Zähne mit Abstand der häufigste Vorstellungsgrund für
Kaninchen in Tierarztpraxen waren. Interessanterweise waren Erkrankungen der Atmungsorgane
(Rhinitis) ebenfalls häufig. Wichtig ist diese Information deshalb, weil bei Schnupfen Bakterien häufig
über die „Eustachische Röhre“ (Ohrtrompete, Tuba auditiva) in das Innenohr gelangen und dort
entzündliche Erkrankungen hervorrufen können (Snyder et al., 1973; Flatt et al., 1977).
Ohrerkrankungen als Vorstellungsgrund selbst spielten in der Analyse von Langenecker et al., 2009, bis
auf Kratzer und Kerben, keine Rolle.
Bild 3: Vorstellungsgründe für Kaninchen in verschiedenen Tierarztpraxen, Langenecker et al, 2009,
Mullan & Main, 2006
Einige Untersuchungen/Studien in Bezug z. B. auf Otitiden griffen auf eine Tierzahl zurück, die über
mehrere Jahre gesammelt wurden, so z. B. de Matos, 2014 mit 88 Tieren aus 6,7 Jahren und Reuschel,
2018 mit 388 Tieren für CT-Auswertungen aus 8,1 Jahren.
Das Alter der Kaninchen in den Untersuchungen zu vergleichenden Prävalenzen von Erkrankungen lag
in verschiedenen Studien im Schnitt zwischen 4-5 Jahren. Nach Mäkitaipale et al., 2015 können
mittelgroße Kaninchen im Alter von sieben Jahren als geriatrisch angesehen werden, während Zwerg-
und Riesenrassen eine kürzere Lebenserwartung aufweisen und geriatrische Erkrankungen bei diesen
Rassen bereits im Alter von vier bis fünf Jahren auftreten können. Wichtig ist dieser Fakt, wenn in
Studien Vergleiche angestellt werden, ohne das Alter der Tiere in den verglichenen Gruppen
anzugeben, wie z. B. in der Studie von Claaßen, 2004 zum Hörvermögen von Kaninchen.
Eine a-priori-Berechnung des Stichprobenumfangs für eine Studie von O’Neill et al., 2020 ergab, dass
mindestens 2.356 Kaninchen beprobt werden müssten, um eine Erkrankung mit einer erwarteten
Prävalenz von mindestens 2,5 % mit einer Genauigkeit von 0,5 % bei einem Vertrauensniveau von 95%
aus einer Studienpopulation von 6.349 Kaninchen zu repräsentieren.
Ohne Rassezuordnung waren in dieser Auswertung der Vorstellungsgründe für 2.506 Kaninchen in
englischen Tierarztpraxen Erkrankungen des Gehörs in Form von Otitiden mit 1% beteiligt, wobei das
mittlere Alter der Tiere im Median bei 5,5 Jahren lag – es war somit höher als das mittlere Sterbealter
von 4,3 Jahren in dieser Untersuchung.
Bild 4: Mediane des Alters von Kaninchen im Zusammenhang mit gruppierten Vorstellungsgründen,
nach Daten aus O’Neill et al, 2020
In einer automatischen Antwort-Mail des „QUEN editorial team“ wurde folgendes verlangt: „If you notice
any errors in the text or in the leaflets, please let us know, stating the exact location and, if it concerns
statements on the assessment of defects, attaching the source and citing the scientific literature.“. Das
ist deshalb besonders bemerkenswert, weil im gesamten Merkblatt keine einzige Behauptung mit einem
wissenschaftlichen Nachweis versehen und nur 5 Quellen am Ende angegeben wurden.
Aus diesem Grund wird in einer Sonderausgabe der “Kaninchenzeitung” und der “Kleintiernews” auf
einzelne Behauptungen im QUEN-Merkblatt für Widderkaninchen eingegangen. Sie soll u. a. auch
Züchtern Informationen liefern, um im Fall eines ausgesprochenen Zucht- oder Ausstellungsverbotes
auf Basis dieses Merkblattes auf die Behauptungen eingehen zu können. Ergänzt wird die
Sonderausgabe durch einen Literaturüberblick ausgewählter Quellen, die in Studien, von Tierärzten und
Tierschützern häufig für Behauptungen zitiert werden. Zusätzlich sollen Definitionen für ein
gemeinsames Verständnis von Begriffen schaffen (Rühle, 2022e).
Aus den vorgenannten Gründen sollte die Anwendung des QUEN-Merkblattes als Begründung für
Zucht- und/oder Ausstellungsverbote vom ZDRK kritisch geprüft und gegebenenfalls mittels eines
Präzedenzfalls zu einer rechtsverbindlichen Klärung gebracht werden, die im Moment nicht gegeben
ist. Züchter sollten sich vom Amtstierarzt schriftlich bestätigen lassen, wie die Schwere der Ohren ihrer
Tiere ermittelt und mit welchem Maßstab verglichen wurden. Weiterhin wäre es hilfreich, mittels Foto zu
dokumentieren, in welcher Position die Ohren eines Kaninchens bei gesenktem Kopf gegebenenfalls
den Boden erreichten. Weitere Informationen zu Haltungsvorgaben und Umgang mit Veterinärbehörden
wurden von Walks, 2022 formuliert.
Bei Gebiss- und Augenerkrankungen sowie Schnupfen sollten immer regelmäßig die Ohren mit
untersucht werden. Außerdem sollten von Tierärzten bei Erkrankungen die Haltungs- und
Ernährungsbedingungen erfragt werden.
Zusammenfassung
Das Merkblatt QUEN-Kn-MB-sD-2022 mit dem Bearbeitungsstand vom 11.05.2022 ist nicht geeignet,
als wissenschaftliche Grundlage für die Begründung eines Zucht- und Ausstellungsverbotes von
Kaninchen zu dienen, deren Ohren im Vergleich zum Wildkaninchen nicht stehen, sondern am Kopf
herabhängen. Begründet wird das dadurch, dass im Merkblatt selbst Vermutungen angestellt werden
und daraus folgend auf Leiden und Schmerzen geschlossen wird. Das die Vermutungen und
Schlussfolgerungen nicht zutreffen, kann anhand wissenschaftlicher Literatur sowie Beobachtungen an
Wildkaninchen belegt werden.
Im Merkblatt aufgeführte Krankheiten können Kaninchen jeder Rasse betreffen. Die Inzidenz für
Zahnerkrankungen ist bei Kaninchen generell hoch, während sie für Ohrerkrankungen gering ist. Eine
vermutete, höhere Häufigkeit für Erkrankungen bei Kaninchen mit hängenden Ohren kann nicht belegt
werden, da repräsentative Studien dazu fehlen und Fallstudien zum Teil das Gegenteil belegen.
Die angegebenen, fünf Quellen im Merkblatt enthalten unwissenschaftliche und/oder unbelegte
Aussagen bzw. Ergebnisse aus Untersuchungen, die nicht repräsentativ sind.
Das Alter der Kaninchen in Untersuchungen war sehr hoch, der Einfluss der Haltung und Ernährung
blieb weitgehend unberücksichtigt.
Es wird nicht unterschiedenen zwischen unkontrollierter Hobbyzucht oder Vermehrung, der Vermehrung
aus finanziellen Gründen sowie der organisierten Rassekaninchenzucht im ZDRK.
Änderungen von Rassestandards des ZDRK, 2018 seit dem Erscheinen des „Qualzuchtgutachtens“
von Herzog et al., 2005 blieben unberücksichtigt.
Das Merkmal besonders schwerer Ohren für mögliche Zucht- oder Ausstellungsverbote ist praktisch
kaum zu erfassen und ohne Maßstab nicht zu beurteilen, das Merkmal der Ohrlänge bei gesenktem
Kopf ist unklar.
Literaturverzeichnis
Kaninchen würden Wiese kaufen
© A. Rühle: 2008-2022