Zahnfehler
Erbliche Zahnfehler - Brachygnathia superior
Einleitung
Seit einigen Jahren werden bestimmten Kaninchenrassen eine Prädisposition für
verschiedene, vor allem erbliche Erkrankungen zugeschrieben. Den Beginn machten
Zahnerkrankungen und hier besonders die sogenannte „Brachygnathia superior“, die
sich in einer Verkürzung des Oberkiefers äußert. Neuerdings ist in diesem
Zusammenhang auch von einer „Brachyzephalie“ die Rede. Dabei handelt es sich
um eine vererbte Erkrankung, die mit einer Deformation des Gesichtsschädels
einhergeht. Beschrieben wird sie für den Menschen, Hunden und Katzen. Bei
Kaninchen wurde meines Wissens der Erbgang nicht nachgewiesen, sondern wenn,
wird hier von einer „brachyzephalen Kopfform“ im Zusammenhang mit einem
„Kindchenschema“ gesprochen, welches Käufer ansprechen soll. Im Gutachten des
BMEL, 2005 zum §11b des Tierschutzgesetzes wurde die Brachyzephalie auch nicht
für Kaninchen aufgeführt.
Die folgenden Informationen sollen Interessierten die Möglichkeit bieten, bestimmte
Angaben und Zitierungen in der Literatur vor allem in Bezug auf Zahnerkrankungen
besser zu verstehen und einzuordnen. Dafür ist es nötig, sich mit der Geschichte von
Laborkaninchen und somit älterer Literatur auseinandersetzen. Mit Kenntnis der
nachfolgenden Informationen möchte ich die Leser des Beitrags in die Lage
versetzen, aktuelle Aussagen und Zitierungen entsprechend einzuordnen.
Institutionen, Labore und Kaninchen
Ab den 1930er Jahren wurden verstärkt Tierversuche durchgeführt, um Krankheiten
des Menschen besser zu verstehen. Auf Grund der hohen Reproduktionsrate rückte
dabei das Kaninchen als „Modelltier“ für den Menschen in den Mittelpunkt des
Interesses. Ergebnisse von Versuchen mit den Tieren konnten in kurzer Zeit auch an
Nachkommen erzielt werden. Dafür benötigte man allerdings Tiere mit relativ
gleichen Eigenschaften, um die Fehlerquote durch zu viele Variablen gering zu
halten. Auch aus diesem Grund wurden an verschiedenen Instituten „Inzuchtlinien“
etabliert.
Bekannt ist dafür z. B. das „Rockefeller Institute“ in Princeton/New Jersey, an dem
auch Harry S. N. Greene tätig war. Dieser ist vor allem durch seine Beiträge zum
Thema „Uteruserkrankungen“ bekannt geworden, die heute eher missbraucht, als
gebraucht werden. Beispielhaft sei auf einen Artikel in meinem Blog verwiesen: Die
Kastration von Kaninchen. Teil 3: Die Studien von Greene.
Bei einer zweiten Einrichtung handelt es sich um das „Jackson Laboratory“ (JAX) mit
dem Hauptsitz in Bar Harbor/Maine. Früher beherbergte das JAX eine große
Sammlung von Kaninchen aus verschiedenen Inzuchtlinien, welche ab 1929 von P.
B. Sawin aufgebaut wurde, der vom Rockefeller Institute zum JAX gewechselt war. Er
kombinierte Inzucht mit einer Reihe von „Mutanten“, die von biomedizinischem
Interesse waren. Die Kolonie umfasste 18 Inzucht- oder Teilinzucht- und/oder
Mutantenstämme; einige von ihnen wurden mit ihren Stammbäumen von Festing,
1979 in einem Buch aufgeführt. Bei den Ausgangstieren eines Stammes bzw. einer
Zuchtlinie, die die Kennzeichnung „III“ erhielt, handelte es sich um die Rasse „NZW“
(New Zealand White = Weiße Neuseeländer mit einem Körpergewicht von 4-5 kg).
Mitarbeiter am JAX waren z. B. Richard R. Fox, Dorcas D. Crary und Chen Kang
Chai.
In Deutschland der 1930er Jahre arbeitete und forschte Dr. Hans Nachtsheim an der
Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin zur Genetik kleiner Säugetiere und in der
DDR z. b. Prof. Dr. Wolfgang Rudolph im Bereich Tierzucht an der Universität
Rostock.
Wichtige, ältere Aufsätze
In diesem Abschnitt werden einige Originalzitate benutzt, um mögliche Irrtümer in
Bezug auf eine Interpretation zu vermeiden.
Der Fall einer Zwergvariation wurde 1931 von Harold S. N. Greene am Rockefeller
Institute in einem Wurf registriert, der aus der Rückkreuzung eines Hermelin-
Weibchens (Polish) mit einem Hybridkaninchen stammte - also einer Rückverpaarung
eines weiblichen Tieres mit seinem Vater oder eines männlichen Tieres mit seiner
Mutter. Nachfolgende Untersuchungen aus der Zucht mit diesen Tieren zeigten, dass
die Übertragung der Variation auf eine Familie der reinrassigen Hermelinkaninchen
und auf Hybriden aus dieser Familie beschränkt war (Greene et al., 1934; Greene,
1940). Die Mutation entstand also durch ein enges, verwandtschaftliches Verhältnis
der Tiere untereinander und beschränkte sich auf die Nachkommen der
Merkmalsträger.
Nachtsheim, 1936 wird im Zusammenhang mit Zahnerkrankungen sehr oft mit einer
Statistik zitiert, wonach nur 3 von 266 Wildkaninchenschädeln (1,13%)
Zahnanomalien aufwiesen, aber 11 von 101 untersuchten Hauskaninchen (10,89%).
Aber: keines dieser Tiere wies eine eine Prognathie auf - in der Mehrheit waren es
fehlende Schneidezähne und/oder verdoppelte Backenzähne. Im selben Artikel
berichtete Nachtsheim von einem ihm erstmals bekannt gewordenen Beispiel einer
„Unterkieferprognathie“ bei Japaner-Kaninchen - einer mittelgroßen Rasse mit einem
Gewicht von 3,75-4,25 kg. Abschließend stellt Nachtsheim dazu fest: „In diesem Falle
ist mithin durch die Zahnanomalie hervorgerufene Veränderung so weitgehend, daß
sie in den Bereich der künstlichen Zuchtwahl fällt; der Züchter wird Tiere mit der
Anomalie, selbst wenn er sie bis zum fortpflanzungsfähigen Alter am Leben erhält,
nicht zur Zucht benutzen.“.
In einem Artikel aus dem Jahr 1937 führte Nachtsheim zwanzig von ihm
nachgewiesene Erbkrankheiten bzw. Erbanomalien auf. Unter dem Punkt
„Schädelanomalien“ findet sich folgende Erklärung: „Brachygnathia superior.
Unterkieferprognathie, richtiger gesagt, eine Verkürzung des Oberkiefers. Die Tiere
sind in den ersten Lebenswochen normal. Wenn aber stärkeres Längenwachstum
des Schädels einsetzt, bleibt der Oberkiefer hinter dem Unterkiefer zurück. Dadurch
kommen Nagezähne von Ober- und Unterkiefer in falsche Lage zueinander: statt
hinter den Incisiven des Oberkiefers liegen die des Unterkiefers schließlich vor
diesen. So können sich die Nagezähne nicht mehr abnutzen, werden überlang und
verhindern die Nahrungsaufnahme, Tod der Tiere durch Inanition. Erbgang
wahrscheinlich rezessiv, weitere Untersuchungen an größerem Material erforderlich.“.
Chen Kang Chai veröffentlichte mit Karl-Heinz Degenhardt, 1962; bzw. als alleiniger
Autor (Chai, 1969; Chai, 1970) Artikel, die sich vor allem mit Inzuchtlinien am JAX
und den Auswirkungen dieser Zuchtform auf die Konstitution von Kaninchen
beschäftigten. In dem am häufigsten zitierten Artikel von Chai, 1970 wurden vor allem
Deformationen am Schädel beschrieben und mit Bildern belegt, die verschiedene
Arten von Fehlstellungen zeigen, die nicht nur die Schneidezähne, sondern auch die
Backenzähne und Verformungen der Prämaxillär-, Maxillär- und Nasenknochen
betrafen (Maxillär = den Oberkiefer betreffend). In der Zusammenfassung hieß es:
„"We observed homoeotic variations and abnormalities in continuously inbred
populations of rabbits. The frequencies of the types varied between lines, and
between generations within lines. The ill effects of inbreeding, the so-called
inbreeding depression, were interpreted according to modern concepts of genetic
loads and the genetics of developmental homeostasis. The process of inbreeding is
considered to be a synthesization by trial and error of genotypes with genes best
balanced in the homozygous state. The maternal environment of inbred mothers is
determined by fixed genes and can contribute to inbreeding depression.“. An dieser
Stelle sei noch in Erinnerung gerufen, dass es sich bei den Tieren um Weiße
Neuseeländer handelte.
Fox & Crary, 1971 vom JAX verzeichneten eine Zunahme des Merkmals „Mandibular
prognathism“ in einer Variante der ursprünglichen Inzuchtlinie “III” von Weißen
Neuseeländern mit der Bezeichnung „IIIc“ und untersuchten dieses Phänomen: „A
recent increase in the number of prognathic animals produced in strain IIIc prompted
us to investigate the inheritance of this condition in the rabbit. It is the aim of this
paper to describe the pathology and the mode of inheritance of this condition as it
occurs in strain IIIc animals.” Bis dahin traten Fälle von Prognathismus in der Kolonie
des JAX nur sporadisch auf. Als Ursachen wurden folgende fünf Faktoren genannt:
•
„abscessed jaws or teeth (either incisors or molars) resulting in an uneven bite
as the rabbit favors the sore tooth, thus permitting the incisors to bypass each
other …
•
grossly unequal development of the two sides of the jaw or face resulting in
crooked noses, again allowing the incisors to bypass each other,
•
disruption of normal growth of the upper jaw, either through conditions such as
hydrocephaly or by experimentation
•
decreased growth of the maxilla and
•
excessive growth of the mandible.”
In den Untersuchungen wurde u. a. folgendes festgestellt: „Preliminary observation
on this population indicate that overall skull length and length of the maxillary
diastema tend to be reduced with prognathism but that the mandible is relatively
unchanged.”. Von dieser Feststellung ist in heutigen Zitierungen bzw. Erklärungen
des Prognathismus nur noch das verkürzte Diastema übriggeblieben und, allerdings
mit einer Verwechslung von Korrelation und Kausalität, ein verkürzter Schädel.
Kalinowski & Rudolph, 1974 berichteten über das „gehäufte Auftreten atypischer
Wuchsformen der Schneidezähne“ in einem Bestand von Weißen Neuseeländern.
Laut Abstammungsnachweisen ging der Ausgangsbestand auf wenige Tiere zurück,
die in den Jahren 1963/64 angeschafft wurden: "Mit diesen Tieren war in den ersten
Jahren zunächst Verwandtschaftszucht betrieben worden, um die Erhaltung und
Vermehrung dieser mittelschweren Mastrasse zu sichern.". Vermutet wurde die
Vererbung durch ein rezessives Gen.
Bei zwei weiteren, häufig zitierten Literaturquellen von Fox, 1994 und Lindsey & Fox,
1994 handelt es sich um zwei Kapitel eines Buches mit dem Titel „The Biology of the
Laboratory Rabbit“. In diesen werden viele Ergebnisse der hier bereits vorgestellten
Untersuchungen vom JAX zusammenfassend beschrieben. so heißt es in Punkt II,
"Conditions controlled by single (mutant) genes": "Fox and Crary (1971) recently
reported evidence that mandibular prognathism is inherited as an autosomal
recessive trait with incomplete (81%) penetrante. Affected animals were found to
have reduced length measurements for the skull and maxillary diastema, without
significant deviation from normal length of mandibles. These authors postulated a
mechanism for action of the abnormal gene (mp), namely, differential growth of dorsal
and basal skull bones with a resulting anterior displacement of the mandible. The
condition in rabbits was compared to class III malocclusion, a similar abnormality in
humans.". Als Ursache für das Wirken des abnormalen Gens (mp) wurde ein
differentielles Wachstum der dorsalen und basalen Schädelknochen mit einer daraus
resultierenden anterioren Verschiebung des Unterkiefers ermittelt.
Zusammenfassung
Verschiedene Quellen aus den Jahren 1936-1994 berichteten über eine
pathologische, rezessiv vererbte Mutation bei Kaninchen, die sich in einer verkürzten
Gesamtschädellänge und Länge des Diastemas des Oberkiefers bei unveränderter
Länge des Unterkiefers äußert (Brachygnathia superior). Alle Kaninchen in diesen
Untersuchungen stammten aus Inzuchtlinien bzw. Kreuzungen daraus. Bei allen
Tieren handelte es sich um mittelschwere Rassen mit mehr als 3,5 kg Lebendgewicht
mit Stehohren (Nachtsheim, 1936; Chai & Degenhardt, 1962; Chai, 1969; Chai, 1970;
Fox & Crary, 1971; Kalinowski & Rudolph, 1974; Fox, 1994; Lindsey & Fox, 1994).
Einen Zusammenhang von erblich bedingten Zahnerkrankungen mit einem erblich
bedingten Zwergwuchs kommentierte Prof. Dr. Werner Rudolph, 1994
folgendermaßen: "Von einem Zusammenhang zwischen den Genen für Zwergwuchs
und jenen, die Zahn- oder Kieferanomalien hervorrufen, kann keine Rede sein. Dies
zeigt die Ubersicht über die bisher bekannten Kopplungsgruppen von Genen (Fox
1994). Solche Anomalien kommen auch bei anderen Rassen vor (Fox u. Crary 1971),
besonders dann, wenn Inzucht im Spiel ist.".
Erworbene Zahnfehler
wird fortgesetzt ...
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Kaninchen würden Wiese kaufen
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